Ortsbestimmung

Ortsbestimmung: Ein preisgekrönter Text

Mit seinem Einzeltext „Ortsbestimmung“ gewann Gerold Tietz den Literaturpreis 2006 der KünstlerGilde Esslingen.

In ihrer Begründung zur Preisverleihung schrieb die Jury der KünstlerGilde über „Ortsbestimmung“: „Ein sehr intelligenter Text, der geschichtsträchtig ist, ohne zu langweilen oder in den Jammerton des Heimatverlustes zu verfallen.“

Und weiter heißt es in der Laudatio: „Gerold Tietz betreibt die Suche nach Identität und Wahrheit mit feiner Ironie und sprachlicher Virtuosität.“

Ungekürzter Volltext

Ortsbestimmung

Wenn ich mich frage „Kde je můj domov?“, „Wo ist mein Zuhause?“, so muss ich rundheraus sagen: Ich weiß es nicht.

Als das böhmische Meer ausgelaufen ist, bin ich am Ufer sitzen geblieben – zwischen allen Stühlen. Seitdem setze ich meine Segel und schicke meine Papierboote hinaus.

Kde je můj domov? Als Vierjähriger habe ich auf der Flucht geschrien: „Ich will wieder heim!“ Und auf der Schulbank im Schwäbischen hat mich der Lehrer gefragt: „Aus welchem Erdteil kommst denn du?“ Ich habe meinen Atlas aufgeschlagen und vergeblich Horka darin gesucht. Mein böhmisches Dorf war hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden.

Als ich unverbesserlich die Tomaten als Paradeiser und die Pantoffeln als Patschgoren bezeichnete, kramte meine Mutter ein Foto von Horka hervor. Sie hatte mein böhmisches Dorf samt der ganzen Daubaer Platte in ihrer Hucke mitgenommen. Das winzige Foto ging an einen Maler und kam als kolossales Ölgemälde zurück, das im Wohnzimmer über dem Sofa zwischen einem Radiokasten und einem Weihwasserkessel den zentralen Platz einnahm. Nun saß ich also nicht mehr an dem imaginären böhmischen Meer, sondern an dem Teiche eines veritablen böhmischen Dorfes mit 27 Häusern, einer Schulbibliothek mit 80 Bänden, einer Dreifaltigkeitskapelle, einer Schiller-Eiche, zwei Franz-Joseph-Akazien, etlichen Feldkreuzen, einer Feuerwehrspritze und den Pawlatschen, auf denen Mohnhäuptel, Hopfenblüten und Kukuruz trockneten.

Als ich die böhmische Hucke aufschnürte, kamen wundersame Geschichten zu Tage. Von einem slowakischen Dienstmädchen, das Gänse rupft, einem ungarischen Kutscher, der den zugeflogenen Uhu des Grafen Waldstein gegen Weihnachtskarpfen rücktauscht, einem katholischen Heiligen über dem Küchenherd, den ein Warschauer Student als Martin Luther enttarnt, von Schlittenfahrten zur tschechischen Verwandtschaft in Katusice, von jüdischen Hopfenhändlern und böhmischen Brüdern, die sich mehr über Propheten und das Paradies unterhalten als über die Hopfenbörse.

Als Student der Geschichtswissenschaft merkte ich allerdings, dass das Inventar in der Hucke nicht mehr vollständig war. So allerhand musste auf der Flucht abhanden gekommen sein – so eine SA-Ehrennadel, ein Parteibuch mit einem Hakenkreuz und ein Stoffabzeichen mit einem großen P für polnische Zwangsarbeiter.

Kde je můj domov? Mit meinem böhmischen Dorf ergeht es mir so ähnlich wie Jan Skácel mit der Mährischen Hymne. So wie diese zwischen „Nad Tatrou sa blýska“ und „Kde domov můj?“ eine Pause einlegt, so macht die sudetendeutsche Geographie zwischen dem Egerland und dem Altvater um Horka einen Bogen. Ich konnte es auf keinem der Sudetendeutschen Tage, weder in Wien noch in Nürnberg, finden. Man hatte es schlichtweg übersehen, und so blieb es irgendwo mit seinen 27 Umgebindehäusern liegen, zwischen Heimatrichtfest und Volksgruppenparteitag, zwischen Kirmst, Heiratsmarkt und Stammtisch.

Rein statistisch betrachtet ist meine Heimat auf einem amtlichen Papier zu besichtigen. Der Ort nennt sich ‚Heimatvertriebenenausweis A‘. Verheiratet bin ich mit einer Nicht-Sudetendeutschen, was vielen Sudetendeutschen ein Ärgernis ist, das sich schnell wieder legt, wenn ich erkläre, nach den Erbgesetzen des Brünner Gregor Mendel erscheinen in der Enkelgeneration wieder reinrassige Sudetendeutsche, und zwar im Verhältnis drei zu eins.

Im Allgemeinen titulieren mich die Bayern als Saupreuß und die Schwaben als Pollack. Sonst werde ich aber auch gehandelt als Karnickel, Watzlaw, Revanchist, Hundeschnäuziger, Hitlerist, Heimatdurchtriebener, Boche, Reingeschmeckter und Verzichtler.

Kde je můj domov? Als ich als Student in Paris ein Zimmer suchte, erklärte mir die Wirtin, sie könne ihren Hausbewohnern keinen Deutschen zumuten. Da erzählte ich ihr, eigentlich käme ich aus einem böhmischen Dorf, das abwechselnd zu Österreich, Tschechien und Deutschland gehörte. „Da sind Sie ja gar kein richtiger Deutscher“, sagte sie erleichtert. Ich nickte. Und auch kein richtiger Österreicher. Ich nickte wieder. „Aber was dann?“ „Meine Mutter“, erwiderte ich, „die hat in ihrer Hucke noch einen Ausweis, darauf steht: ‚Gertrudova Zboršilova, učitelka‘.“ Da ging ein Leuchten über ihr Gesicht und sie rief aus: „Mon petit tchèque!“

Seit diesem Augenblick fühle ich mich wieder richtig zu Hause. Ich wandere mit Karel Hynek Mácha um den Altperstein, verscheuche mit Karel Čapek die nordischen Übermolche von der Horkaer Basaltkuppe, begleite Mozart auf der Reise nach Prag, melde mich bei Casanova in der Bibliothek zu Dux an, trällere mit Löhner-Beda „Oh Donna Clara“ und treibe mich mit Schillers Räubern in den Wäldern von Landstein herum.

Um allen Heimatlandhändlern und Identitätsstiftern zu entkommen, flüchte ich in den Felsenkeller meines Urgroßvaters. Dort verstecke ich mich in einem Riesenfass zwischen Ziersäbeln und Hofperücken, versteinerten Olmützer Quargeln und Gablonzer Broschen, einer Hohnerovo česká harmonika und dem Modell eines k. k. Donaudampfschiffes.

Und wenn dann eine Kommission aus Brüssel erscheint und wissen will, was ich bin, ob ich den Zigeunern aus der Hucke gesprungen sei, vom Urvater Čech abstamme oder ein illegitimer Spross der Wallensteiner sei, dann hole ich tief Luft, mache eine lange Pause und sage: „Ich bin von hier.“

Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.


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