Kateřina Kovačková

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K. Kovačková – zusammengefasst

Literaturwissenschaftliche Rezension (Volltext)

Über Kateřina Kovačková

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K. Kovačkovás – zusammengefasst

Literaturwissenschaftliche Kritik von Kateřina Kovačková zu Gerold Tietz – zusammengefasst vom ROGEON Verlag:

»Die selbst aus Böhmen stammende Autorin Dr.. Kateřina Kovačková, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fach Neuere Deutsche Literatur promoviert hat, analysiert in ihrem Beitrag das literarische Werk von Gerold Tietz – und sein Lebensgefühl ‚zwischen allen Stühlen zu sitzen‘; einem – wie er selbst sagte – angemessenen Platz für einen Schriftsteller. Auf der Basis eines ausführlichen persönlichen Gesprächs mit Gerold Tietz (noch kurz vor seinem Tod) und der aufmerksamen Lektüre seiner Werke sowie einem fundierten Hintergrundwissen über Literatur und Geschichte gelingt der Autorin die bis dato zweifellos tiefgreifendste Arbeit über Tietz‘ Werk. Letzterem Umstand hätte der Autor selbst eine enorme Wichtigkeit beigemessen, zumal er zu Lebzeiten zum Ausdruck brachte, dass gerade das Nichtwissen über die Geschichte ein fundamentales Problem der Menschheit darstelle, ein Nichtwissen, welches ein wichtiges Lernen verhindere und somit zu einem Wiederholen von folgeschweren Fehlern führen könne.

Kateřina Kovačková legt in ihrem literaturwissenschaftlichen Artikel u.a. dar, warum es sich bei Tietz‘ Büchern um einen Vertreibungstext an der Grenze von der ersten zur zweiten (Nachfolge-) Generation handelt, und wie Tietz stets ‚typisch-böhmisch‘ bestrebt sei, sich aus möglichst vielen Perspektiven dem Darzustellenden zu nähern – zumeist mit einem guten Schuss böhmischer Ironie. Wichtig war Tietz nach Recherchen der Autorin dabei stets, dass sein satirischer Erzählansatz niemals die Intention gehabt hätte, spottend über andere zu richten, sondern dass er vielmehr ein Stilmittel sei, um die breite Farbskala zwischen einem simplifizierenden Schwarz und Weiß zum Schillern zu bringen.

Die Analyse von Kateřina Kovačková legt offen, wie nach Tietz‘ Auffassung die großen geschichtlichen Ereignisse einen Rattenschwanz von kleinen Ereignissen hinter sich herziehen würden, und wie Tietz gerade die Auswirkungen letzterer im Leben der einfachen Menschen beschreibe. Auf diese Weise würden seine Bücher einerseits authentisch, andererseits multiperspektivisch und befreit von einseitiger Subjektivität und Pathos – und frei von Selbstmitleid. Die historischen Tatsachen scheinen dadurch – obgleich akribisch recherchiert – eine marginale Nebenrolle bei Tietz einzunehmen. Auf diese Weise würde er in seinen Romanen viel ansprechen und zugleich wenig verschweigen. Kateřina Kovačková stellt in ihrem Beitrag unter anderem heraus, dass der Autor trotz der Zusammensetzung aus einzelnen Episoden, die anekdotisch aneinandergereiht sind, niemals den roten Faden verliere, so dass sich die erzählte Geschichte zu einem abgerundeten Ganzen füge. Ihrer Meinung nach ist der Leser gut beraten, zumindest ein partielles geschichtliches Wissen mitzubringen, weil sich die Lektüre von Tietz‘ Büchern, die voll von vielschichtigen kulturellen, politischen und historischen Anspielungen sind, sonst schwierig und nur unvollständig erschließen lasse.

Die Autorin des Beitrags geht bisweilen ungewöhnlich weit und tief, wodurch der Leser ihres Artikels beispielsweise lernt, das Tietz‘ Drang, stets auch die andere Seite der Münze zu erschließen, von jeher so stark gewesen sei, dass er die autobiographisch geprägte Roman-Figur Gernot in Kinderschuhen bereits die Honigbrote umdrehen ließ – womit Tietz zugleich der böhmischen Eigenart Rechnung trage, die Dinge immer wieder kritisch auf den Kopf zu stellen. In vergleichbarer Weise erörtert Kateřina Kovačková die – aufgrund aller impliziten, automatischen Assoziationen – abgeneigte Haltung von Gerold Tietz gegenüber dem Wort ’sudetendeutsch‘. Er habe den Begriff ‚deutsch-böhmisch‘ bevorzugt, welcher keine schlammig-braune Spur hinter sich her ziehe. Und man erfährt auch, dass der Heimatbegriff von Tietz mehr geprägt sei durch die geliebten Menschen als durch einen bestimmten Ort, eine Stadt, eine Landschaft oder ein Haus; und so verwundere es auch nicht, dass er es in diesem Zusammenhang mit Václav Havel hielt, der einmal sagte „Die Heimat kann ein dumpfes Loch sein, oder sie kann ein Sprungbrett bedeuten.“

Ein wertvolles Verdienst des Beitrags der Germanistin Kovačková ist nicht zuletzt der Brückenschlag zur Gegenwart, insbesondere zur Herausforderung der ‚Migration‘ – ein Brückenschlag über den zeitlichen wie auch den geographischen Tellerrand hinaus; ein Schritt, welchen die ‚älteren sudetendeutschen Vertreter‘ allzu oft vermissen lassen. Gerade dieser durch Kateřina Kovačková geschaffene Mehrwert dürfte dem Schriftsteller Gerold Tietz gesellschaftlich besonders wichtig gewesen kein. Die Autorin hat damit einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das zentrale Anliegen von Tietz‘ über seinen Tod hinaus am Leben zu halten und Früchte tragen zu lassen.«

ROGEON Verlag

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Literaturwissenschaftliche Rezension

von Kateřina Kovačková

«Ist in der Kultur wirklich ‚alles Wurscht‘?

Gerold Tietz und sein Lebensgefühl, ‚zwischen allen Stühlen‘ zu sitzen

„Die großen Ereignisse ziehen einen Rattenschwanz von kleinen Ereignissen hinter sich her“, sagte Gerold Tietz in einem Gespräch, das ich mit ihm und seiner Frau Rosemarie, die mitunter unter dem Pseudonym Anne Birk publizierte, im Mai vergangenen Jahres in Esslingen führte, wenige Wochen vor ihrer beider Tod. Gerade diese ‚kleinen Ereignisse‘ rückt Tietz in den Vordergrund seiner Romane, für die das Attribut böhmisch zu gebrauchen, ich durchaus legitim finde. In Anlehnung an Jens Stüben können wir zugleich deren Thema als eine anthropologische Konstante bezeichnen, denn es geht um das stets aktuelle Problem, um „das ewige Verlieren und Wiederfinden von Heimat. Und wenn es nur das Wiederfinden in der Erinnerung ist“, wie es die Schriftstellerin Helga Lippelt formuliert. Die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit ist das Leitmotiv, das Tietz´ Romane durchzieht, wobei die Kausalität von Ursache und Wirkung der geschichtsträchtigen Ereignisse des 20. Jahrhunderts anhand des Lebens von einfachen Leuten dargestellt wird. Die scheinbar nichtigen Dinge spielen sich vor der Folie des großen Zeitgeschehens ab und bereichern auf diese Weise den Weltlauf um eine neue erzählerische Ebene, indem sie Subjektives, das heißt auch: Gefühlsaufgeladenes, hinzufügen. Von Einseitigkeit und Stereotypisierungen ist seine Darstellung jedoch frei, nicht zuletzt deswegen, weil das Familienportrait mit Hilfe von disparaten Anekdoten nach und nach zusammengesetzt wird.

Das allgemeine Problem der Menschheit – so Gerold Tietz – nicht nur in der heutigen Zeit, sei, dass man zu wenig über die Geschichte wisse. Wisse man aber zu wenig über die Geschichte, so wiederhole man die Fehler der Vergangenheit, weil man aus ihnen nichts lernen könne. Von der Geschichte Mittelosteuropas und von der böhmischen im Speziellen herrsche in der westlichen Öffentlichkeit lediglich ein vages Bewusstsein. Das sei seiner Meinung nach programmatisch − man wolle auch nichts davon wissen, bedauerte der Schriftsteller und gab ein beredtes Beispiel dafür, eine Frage, die an ihn einmal – ohne jegliche Ironie – gerichtet wurde: „Warum sollte man Urlaub in Polen verbringen? Gibt es da vielleicht Strände?“ Eine solche Einstellung sei leider keine Ausnahme; Tietz: „Man tut zuweilen so, als ob eine Sandküste das Wichtigste der europäischen Kultur wäre.“ Das ist traurig, aber kaum zu ändern. (Zumal es in Polen ja viel Strand gibt.) Verhängnisvoller kann es werden, wenn sich Menschen ohne jegliche Vorkenntnisse an die ‚Böhmischen Dörfer‘ heranmachen. Der Schriftsteller erinnerte sich an ein Interview, das mit ihm von einem solchen, von jedem historischen Wissen Unbelasteten gemacht wurde und kommentierte dies wie folgt: „Menschen, die mit der Thematik nichts am Hut haben und von ihr keine Ahnung haben, sollten es sein lassen; es scheint jedoch, dass man sich heutzutage nach dem Motto richtet: In der Kultur ist alles Wurscht.“

„Die unwahrscheinlichsten Geschichten schreibt das Leben selbst“

Die sog. Erlebnisliteratur nimmt innerhalb der Vertreibungsliteratur mitunter den größten Teil ein. Obwohl seine Romane zweifelsohne starke autobiographische Züge aufweisen, handelt es sich bei Tietz nur mit Einschränkung um Erlebnisliteratur. Die wesentliche Abweichung von der Vertreibungsliteratur im herkömmlichen Sinne besteht darin, dass Tietz wegen seines Alters das Leben in Böhmen und die anschließende Flucht noch nicht vollends bewusst miterleben musste. Umso eindringlicher haben sich ihm die ‚unbewussten‘ Wahrnehmungen eingeprägt; der Schriftsteller glaubt sich an erstaunlich viel erinnern zu können. Er kennt die Vergangenheit, auf die er Bezug nimmt, vor allem aber auch mittelbar, aus den Erzählungen der Zeitzeugen. Streng genommen handelt es sich bei dem Werk von Gerold Tietz daher um Vertreibungstexte an der Grenze von der ersten, d.h. der eigentlichen Vertriebenengeneration, zu der zweiten, der ‚Nachfolgegeneration‘, die bereits in der ‚neuen Heimat‘ geboren wurde. Darauf weist schließlich auch die relativ späte Erstveröffentlichung seines ersten Romans [Böhmische Fuge] im Jahre 1997 hin. In meinen Ausführungen werde ich mich vor allem auf diesen Roman beziehen, weil ich ihn als den aufschlussreichsten und interpretatorisch ergiebigsten betrachte.

Tietz verstand laut seiner eigenen Aussage das Schreiben als eine Aufgabe, deren Sinn es war, die Geschichten, die ihm während seines Lebens erzählt wurden, weiterzugeben. Er wollte „nichts Schräges erzählen“; er brauchte es auch nicht, denn, wie Anne Birk bemerkte, „die unwahrscheinlichsten Geschichten schreibt das Leben selbst“. So gibt es beispielsweise in [Böhmische Fuge] eine besonders einprägsame Szene, in der es um zwei große Koffer voll von abgeschraubten Klinken und Schlössern geht − die Kisten aus Schitomir, einer Stadt im Norden der Ukraine. Das Kind Gernot entdeckte sie auf dem Dachboden seines vorübergehenden Zuhause, eines mit Flüchtlingen vollgepferchten Bauernhofs. Die Kisten wurden von der Ostfront nach Deutschland verschickt, um dort ihre zweite Verwendung zu finden; zuvor haben sie jedoch zu vielen Türen gehören müssen, Türen, die womöglich zu einer Küche führten, die der von Anna glich, oder in ein Kinderzimmer, wie Gernots eines war… Unzählige Türen, die vernichtet werden mussten, um zwei große Koffer mit Klinken und Schlössern zu füllen… Was Tietz damals bei dieser Entdeckung empfand? Die nachhaltigste Empfindung war das des Verbotenen, sagte der Autor nach kurzem Überlegen. Überhaupt sei seine Kindheit von Tabugefühlen geprägt gewesen, und das scheint nicht nur für ihn signifikant zu sein: Mit diesem Bewusstsein sei eine ganze Generation seiner Altersgenossen aufgewachsen.

Interessant ist die Genesis der einzelnen Romanepisoden: Zu jeder habe es zwei bis drei Versionen gegeben – vor allem der Anfang der Geschichten geriet zuweilen unterschiedlich. Diese Tatsache weist auf Tietz als einen Schriftsteller hin, der in einer literarischen Tradition steht, die als böhmisch bezeichnet werden könnte. Diese liegt u. A. in dem Bestreben begründet, sich aus möglichst vielen Perspektiven dem Darzustellenden zu nähern; seine Romane wirken daher anekdotenhaft; er setzt das Mosaik des Weltgeschehens aus den Steinen der Einzelbeobachtungen und Erinnerungen zusammen. Wie anekdotenhaft und assoziativ die Handlung auch wirken mag, ist sie dennoch konsequent und durchgängig. Freilich ist sie aufgelockert durch zahlreiche Rückblenden und Vorgriffe, die, mit M. Bachtin zu sprechen, das Prinzip des Chronotopos, die untrennbare Einheit von Zeit und Raum, relativieren. Das Infragestellen aller Dinge ist ein weiteres Moment, das Gerold Tietz als in der böhmischen Erzähltradition stehend ausweist, genauso wie die unumgängliche Ironie, die sich zuweilen auch gegen das eigene Ich richtet. Das ambivalente schwermütig-heitere Lebensgefühl ist genauso vorhanden wie die assoziative, parataktische Art zu schreiben, die aus der multiperspektivischen Betrachtungsweise des Autors resultiert. Gerold Tietz misst jeden mit demselben Maß: sich selbst, wie den anderen; er macht für niemand Extrawürste. In der Böhmischen Fuge etwa ist Gernot, Tietz´ literarisches alter ego, über den genauso wie über die anderen in der dritten Person berichtet wird, nicht einmal eine der wichtigsten Figuren. Die Genügsamkeit, das Nicht-mehr-Wollen, als man zum Leben braucht, kennzeichnet auch einen menschlichen Typus ‚böhmischen Schlags‘: Man denke an Hašeks Švejk. Der brave Soldat bildet in Böhmische Fuge ein dialogisches Pendant zum Erzähler.

Gerold Tietz hat, wie die meisten anderen seiner Leidensgenossen, seine Flüchtlingsgeschichte während eines großen Teils seines Lebens nicht hinterfragt. Sein erster Roman ist im Jahr 1997 erschienen; er brauchte also mehr als 50 Jahre, um sich mit dem Trauma seiner frühen Kindheit auseinandersetzen zu können. Seine böhmische Heimat literarisch festzuhalten begann er erst nach dem Drängeln seiner Frau, die, selbst schriftstellerisch tätig, seine erste Leserin und zugleich Kritikerin war. Leider verstarb der Autor, ehe er seinen fünften ‚böhmischen‘ Roman veröffentlichen konnte; es handelt sich um die Fortsetzung seines zweiten Romans [Große Zeiten – Kleines Glück] (2005), der Geschichte von Leo und Rita. Hoffentlich wird das Werk postum doch noch veröffentlicht. Soviel kann von der Handlung verraten werden: Leo, der Sohn aus wohlhabendem und gebildetem Hause, ein Freidenker und Schlaraffe, wird wegen seiner Lebenseinstellung und des ironischen Humors, den er sich durch nichts verderben lässt – auch nicht durch die neuetablierte Ordnung in der Tschechoslowakei – den neuen Machthabern in Prag ein Dorn im Auge und kommt in ein KZ… Keine lustige Geschichte also. Das ist die böhmische Geschichte jedoch nie gewesen. Barbara König, Autorin aus Reichenberg, hat es mit der ihr eigenen Ironie auf den Punkt gebracht: „Objektiv gesehen ist das böhmische Schicksal ein Pfannen-Schicksal“. Was bleibt in einer ernsten Situation anderes übrig, als darüber zu lachen? Das bittere Lachen der Ironie. Der Humor ist es, der den Menschen vor dem Verzweifeln bewahrt. Je schlechter die Zeiten, umso sarkastischer der Humor. Über todernste Sachen, die einen Menschen persönlich betreffen, kann man nicht todernst reden, will man darüber nicht den Verstand verlieren. Es gibt füglich keine andere entsprechende Erzählhaltung als die der Ironie. Anne Birk: „So, wie mein Mann seine Geschichten erzählt, ist kein Platz für Selbstmitleid; das ginge gar nicht.“

Notwendigkeit eines multiperspektivischen Blicks

Gerold Tietz war sich wohl der Unmöglichkeit einer objektiven Beurteilung der Vergangenheit bewusst. Die Gefahr der Versprachlichung von eigentlich Unaussprechlichem ist die Verzerrung des Erinnerten, für das uns die Worte fehlen. Das liegt schon dem Wesen der Sprache zugrunde: Man kann nicht über ein ernstes Thema pathetisch oder haarspalterisch detailliert schreiben, sonst verliert das Mitgeteilte seine Unmittelbarkeit, flacht ab, wird zu einer langweiligen Aufzählung, oder es würde gar lächerlich wirken. Paul Celan bemerkte einmal: „Wenn man etwas Unheimliches unheimlich schildert, verliert es seine Unheimlichkeit.“ Darin liegt begründet der ansonsten rar anzutreffende Konsens von Schriftstellern fiktionaler Literatur, die über traumatische Erlebnisse schreiben; sie bedienen sich einer einfachen, wortkarg klingenden Syntax mit monotonem, repetitivem Charakter. Der sprachliche Gestus von Tietz´ Romanen bildet keine Ausnahme von dieser Regel: Er ist keinesfalls verschnörkelt, sondern geradlinig, auf parataktischem Satzbau basierend − und gerade deswegen so mehrdeutig. Gerold Tietz sagte von seiner Art, Geschichten zu schreiben, dass er sie „etwas redundant laufen“ lässt. In der Tat scheinen seine Romane aus scheinbar abschweifenden und ausschweifenden Einzelbeobachtungen zusammengesetzt zu sein. Der Autor verliert jedoch den roten Faden nicht aus den Augen und führt das Partielle in einem großzügigen Bogen zu einer Einheit zusammen. Der Leser steht so dem Inhalt der Lektüre viel unmittelbarer gegenüber, als wenn die Handlung stringent linear in der realen Zeitfolge verliefe.

Obwohl man Tietz´ Romane auch als eine Böhmische Trilogie bezeichnet, steht ein jeder allein für sich da; jedes Buch kann separat gelesen werden, ohne dass es dem Handlungskontinuum einen Abbruch täte. Wir haben es hier also nicht mit Fortsetzungen im eigentlichen Sinne des Wortes zu tun; es werden im Grunde wiederholt gleiche Geschichten aus einem leicht verschobenen Blickwinkel betrachtet. Die Fabel aus [Böhmische Fuge] wird nicht einfach in [Böhmisches Richtfest] fortgesponnen, vielmehr wird sie neu umerzählt. Es geht also um eine parallele Erzählung − mit einer anderen Schwerpunktsetzung, aber hinsichtlich des Familienschicksals inhaltlich gleich. Lediglich die ‚surrealistischen‘ Bilder variieren, z.B. gleich in dem ersten Kapitel über das Wirkliche und geheime Fass des Gastwirts Wenzel und es kommen neue Nebenpersonen hinzu, andere werden weggelassen. Tietz war – wie dargelegt – bemüht, sich einem Thema aus möglichst vielen Seiten zu nähern, arbeitete mehrere Fassungen einer und derselben Begebenheit aus; das findet in den Romanen seinen Niederschlag. Diese Erzählstrategie impliziert seine Angewohnheit, das gleiche Thema aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten und zu begutachten. Mit lediglich einer Perspektive konnte sich der Autor nicht zufrieden geben: „In nur einem Buch wäre alles zu plakativ, zu knapp erzählt gewesen“, sagte Frau Tietz. Es scheint, dass die Multiperspektivität an sich ein Phänomen war, das das Leben des Schriftstellers existentiell prägte.

Tietz´ Anliegen war es, der neuesten böhmischen Geschichte einen Spiegel vorzuhalten, um sie darin zu reflektieren; er wollte in seinen Romanen ein ganzes Spektrum an parallelen Modalitäten auffächern, die Themen möglichst von vielen Seiten betrachten. Dieser Drang resultiert in die Tatsache, dass sich durch seine [Böhmische Fuge] viele zuweilen phantastische Elemente ziehen; sie geben dem Erzählten eine andere Dimension, verleihen ihm eine beinahe metaphysische Tiefe bei gleichzeitigem Erhalten eines objektiven, kindlich unbekümmerten Erzähltons. Die historische Realität (die Geschichte seiner Vorfahren, Kulturgeschichte Böhmens) verschmilzt mit purer Fiktion (metaphorische Impressionen, fiktive Personen, Objekte oder Begebenheiten). Die Basis des Erzählten bilden die durchaus real möglich stattgefundenen Ereignisse, die allerdings durch ’surrealistische‘ Einschübe zersetzt werden. Wie Tietz, bzw. sein Erzähler an einer Stelle in [Böhmische Fuge] selber einräumt: „Einbildungen werden Realitäten und Realitäten werden Einbildungen“.

Zu Beginn des ersten Kapitels beispielsweise sind wir Zeugen eines sonderbaren Zwiegesprächs des Erzählers mit dem braven Soldaten Schwejk. Die allerersten Worte und zugleich der Titel des ersten Kapitels ist ein Seufzer: „Ach, Schwejk“. Schwejk ist zwar die Bezugsperson, an die sich der Erzähler wendet, er selbst spricht aber seinen ersten in direkter Rede wiedergegebenen Satz erst im Schlusskapitel. Im Hinblick auf die Vermeidung eines direkten Redemodus zu Gunsten des indirekten entspricht Tietz´ Erzählweise abermals einem der signifikanten Merkmale der Erinnerungsliteratur. Die metaphorische Ausdrucksstärke und die künstlerische Brillanz finden ihren Höhepunkt in der Allegorie des baltischen Übermolchs, der bei Leitmeritz „aus den Fluten der Elbe stieg“ und das „Land gewinnt“. Anhand einer partikularen, rein fiktiven Begebenheit wird eine Geschichte erzählt, die über das Private hinaus geht, die als ‚überindividuell‘ zu bezeichnen wäre. In die Schilderung der Szene, wie sich der langschädelige Riesenmolch perfekt regenerieren kann, und die sinnbildlich für die Annexion der Tschechoslowakei steht, legte Tietz sein ganzes kreativ-schriftstellerisches Potential. An manchen Stellen im weiteren Verlauf des Textes nimmt er sich dann mehr zurück, als es nötig wäre; sei es aus Angst, zu viel von sich preis zu geben, sei es aus der Befürchtung, sich von dem eigentlichen Thema doch zu weit ins Phantastische zu entfernen.

Zugegeben: Tietz´ ‚Böhmische Odyssee‘ ist keineswegs eine leichte ‚Kost‘; auf die Frage hin, an wen eigentlich seine Werke gerichtet sind, zögerte er einige Augenblicke. Anne Birk antwortete an seiner statt: an die gebildete Mittelklasse. Ohne Vorkenntnisse kommt man tatsächlich mit der Lektüre nicht zurecht; um sie zu verstehen, muss man eine gute Kenntnis nicht nur der Geschichte, sondern auch der Kultur und Literatur der Böhmischen Länder besitzen. Ein unvorbereiteter Leser muss sich in der Fülle von Metaphern und Reminiszenzen notgedrungenermaßen verlieren. Es gibt keinen Schlüssel, keinen golemschen Schem, mit dem man auf Anhieb, mit einem Blick sozusagen, das Buch, den Inhalt ‚erkennen‘ könnte; er besteht vielmehr aus Dutzenden von verschlossenen, mit Eisen beschlagenen Türen, zu denen man keine Schlüssel braucht, weil man den Zauberstab in der Hand hält, mit dem die Pforten aufgehen; es kommt ganz darauf an, wie gewandt man im Zaubern ist. Oder aber man hat den Zauberstab nicht, dafür vielleicht einen Bund mit Dutzenden von Schlüsseln: und bei jeder Türöffnung bemüht man sich aufrichtig, den passenden zu finden… Auf diese Weise könnte man lange vor einer solchen Tür stehen bleiben… Viele geben daher schließlich auf. Das Problem der erschwerten Verständlichkeit ist zweifelsohne auch ein Grund für die relativ geringfügige Rezeption seines Werkes in der breiteren Öffentlichkeit. Darüber hinaus sitzt Gerold Tietz auch thematisch zwischen allen Stühlen: Die meisten Tschechen wollen von der böhmischen deutsch-tschechischen Vergangenheit immer noch nichts wissen, die meisten Deutschen sind nicht interessiert.

Tietz betreibt keine Alle-Katzen-werden-grau-Malerei und ist auch weit davon entfernt, seine Charaktere schwarz-weiß darzustellen. Wie er sich selbst auf kritische Distanz betrachtete, so betrachtete er auch andere: seine Familie, das zwangsarbeitende Gesinde auf dem Gut seines Großvaters, seine vertriebenen Leidensgenossen… Mit dem gleichen tastenden Misstrauen, mit dem Gerold Tietz allem und allen in seinem Leben begegnete, erzählte er auch die Geschichten in seinen Romanen. Sein Misstrauen war aber freundlicher Natur, kein Argwohn; er trug sein Herz in der offenen Hand und bemühte sich, ein ehrlicher Erzähler zu sein. Sein satirischer Erzählansatz war nie mit der Absicht verbunden, jemanden zu verspotten oder gar zu richten; wie er sagte, wollte er so getreu wie nur möglich die Geschichten schreiben und dabei zeigen, dass zwischen Weiß und Schwarz eine breite Farbenskala liegt. Sein schriftstellerisches Motto lautete: „Literatur ist kein Lobgetue!“ Für ihn war es erstrebenswert, die erinnerten Ereignisse möglichst unverzerrt darzustellen.

Weil er über die Böhmischen Dörfer schreibt, entgehen auch die einstigen Deutschböhmen seiner satirischen Ironie nicht; am Beispiel seiner Mutter hält er z.B. die Angewohnheit vieler Vertriebenen fest, sich Bilder aus ihrer verlorenen Heimat anfertigen zu lassen; es waren jedoch keine Bilder von Menschen, Tieren oder gar Natur: Es waren im Öl angefertigte ‚Portraits‘ ihrer verlorenen Häuser und Gehöfte. War das Eigentum das, woran die Vertriebenen am meisten hingen? Auch Anna, Gernots Mutter, sonst eine nüchterne und ’studierte‘ Frau, gab so ein Bild in Auftrag: den ‚erzdeutschen‘ Erbmusterhof ihres Mannes, der während dessen Abwesenheit unter das Kommando ihres autoritären Schwiegervaters gestellt wurde, so dass sie nicht unbedingt nur gute Erinnerungen an das Gut gehabt haben dürfte… Betrachten wir diesen vordergründig seltsamen Brauch jedoch von der anderen Seite, so, wie es Tietz´ Angewohnheit stets gewesen ist, bietet sich noch eine mögliche Interpretation, die der Wahrheit u.U. näher steht: Weniger als um das Haus als ‚Besitz‘ im Sinne von Geld ging es mehr um das Haus als einen Ort, der einst den archimedischen Punkt des Lebens der Vertriebenen bildete, der aber nun verloren ist.

Gerold Tietz war sich sehr wohl der menschlichen Neigung zum Verklären des Verlorenen bewusst; deswegen hält er sich als Erzähler auf Distanz zu dem Romangeschehen und versucht, so unbeteiligt wie möglich zu schreiben, objektiv und reflektierend. Mit Hilfe von Ironie, die zuweilen ins Satirische überschlägt, steuert er dieser Bedrohung entgegen. Der Autor wünschte, die kopfstehenden Ereignisse seiner jüngsten Kindheit darzustellen, und zwar diametral anders, als es die Biographien oder Geschichtsbücher tun. Den Inhalt seiner Romane bilden also nicht vordergründig die genau festgehaltenen Ereignisse vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg; die historischen Tatsachen spielen eine scheinbar marginale Rolle, obwohl deren Kenntnis, die sich Gerold Tietz in akribischer Archivarbeit angeeignet hatte, für den Rahmen der Fabel unabdingbar ist. Dass es ihm gelungen ist, Biographisches mit ästhetischer Qualität zu verbinden, davon zeugen auch seine literarischen Auszeichnungen. Er verstand es, seine Protagonisten glaubhaft zu skizzieren, ohne deren Beschreibung mit weit ausholenden Charakteristika in den Vordergrund der Handlung zu zwängen. Vielleicht deswegen fühlt sich der Leser emotional beteiligt, er vermeint, selbst an dem großen, mit weißem Sand blank gescheuerten Tisch aus massivem Holz in der Wohnküche des ‚Reichserbmusterhofs‘ zwischen der Herrschaft und den Landarbeitern zu sitzen. Der Eindruck von Unmittelbarkeit gelingt dem Schriftsteller, weil er frei von Pathos erzählt, vieles anspricht und wenig verschweigt. Tietz schreibt nach seinen eigenen Worten so, wie er sich zu erinnern glaubte, machte nichts besser und nichts schlechter als er es im Gedächtnis hatte. Dadurch entsteht sein authentischer Blick auf die sich allmählich und unwiederbringlich vergiftende Tschechoslowakei.

Kindheit

Mit dem Schreiben über Kindheit und über die verlorene Heimat vergewissert sich der Autor seiner Wurzeln und seines Seins. So gesehen dienen die Erinnerungstexte auch der Selbstfindung ihrer Verfasser. Auch in Tietz‘ Romanen kommt zum Ausdruck, dass man nicht davon spricht, was am meisten eines Gespräches wert wäre, was einen am meisten bedrückt und beschäftigt. Das ist das Merkmal eines Traumas, das sich als durchgehendes Motiv (nicht nur) durch die Vertreibungsliteratur zieht. So unterhalten sich beispielsweise Gernots Mutter Anna und ein anderer Vertriebener, mit dem sie ihr provisorisches Zuhause teilt, über alles Mögliche, erzählen lustige Geschichten, nur um nicht über das sprechen zu müssen, was sie am meisten beschäftigt: Über die verlorene Familie, den verschollenen Mann oder die unauffindbaren Eltern.

Wie viele andere Kinder, die während des Krieges geboren wurden und aufwuchsen, lernte auch Gerold Tietz seinen Vater kaum kennen: Folglich bleibt dieser in seinen Romanen lediglich eine Schattenfigur; sein Hochzeitsfoto ist dem kleinen Gernot näher, als seine wirkliche Gestalt; der Vater, der, wenn er zum Urlaub nach Hause kommt, ein Fremder bleibt… Kinderschicksale haben ihren Platz ausschließlich hinter der Front; hinter der Front spielten sich zu dieser Zeit auch die meisten Frauenschicksale ab – dadurch erhält die Erinnerungsprosa einen weiteren ihrer signifikanten Züge: Die männlichen Personen sind in der Handlung meist abwesend, sie verschwinden oder sterben früh. Gerold Tietz bildet eher eine Ausnahme von der Regel, wenn es bei ihm in Person seines Großvaters eine männliche Figur gibt, die dazu noch ausgeprägt dominante Züge aufweist. Tietz´ Großvater Gustav, der Großbauer auf dem ‚Reichserbmusterhof‘ in Horka, der als vorgeschobener ‚germanischer Wall‘ mitten im ’slawischen Meer‘ seine Vorbildfunktion erfüllen sollte, wird im Roman als ein mehr oder weniger williger, von den Idealen des Nationalsozialismus überzeugter Patriarch dargestellt. Wie dieser sich in der NS-Zeit verhielt, ist gewiss den politischen Umständen geschuldet. Als Großbauer musste er sich zweifelsohne mehr als andere mit dem neuen Regime arrangieren und als ‚Vorbild‘ dienen. Er hat jedoch mehr getan, als von ihm verlangt wurde; kein Parteikader hat ihn z.B. dazu aufgefordert, auf die Felswand in der Nähe seines Dorfes die Parole „Sudetendeutsche erwachet“ zu pinseln. Am Beispiel Gustavs hält Tietz die Verwandlung der Lebensanschauung eines Menschen fest. Er prangert nicht an, er hält gleichsam in Momentaufnahmen diese Wandlung fest.

Es hätte nahegelegen, dass sich Tietz von seinem Großvater nach allem, was er über ihn mit dem Abstand von Jahrzehnten erfahren hatte, distanziert hätte, wie das viele andere in einer ähnlichen Situation wahrscheinlich getan hätten. Nicht so Gerold Tietz; er habe sich in Acht genommen, „Menschen zu sortieren oder sie zu verurteilen“. Für ihn war der Großvater der ’stramme Deutsche‘, wie er ihn mit der ihm eigenen Ironie bezeichnete. Als ein solcher wollte sein Ahn zumindest auf seine Mitmenschen wirken, in seinem Inneren hatte er eher mit Zweifeln zu kämpfen. Dem Schriftsteller muss zugute gehalten werden, dass es ihm gelungen ist, die innere, nach außen hin nicht offenbarte Zwiespältigkeit dieses Mannes an den Leser glaubwürdig zu vermitteln. In unserem Gespräch bemerkt Gerold Tietz über den Großvater: „Er ist ein Mensch gewesen, der seine Familie schützen wollte.“ Eine simple und vielleicht deswegen plausible Erklärung, die gewiss nicht nur auf Tietz´ Großvater zutrifft. Dieser waltete mit fester Hand, wollte Gerechtigkeit üben, was ihm bei seiner Klobigkeit zuweilen ins Gegenteil missriet; er sei jedoch kein Nazi im herkömmlichen Sinne gewesen: „Er hat das Nazi-Zeug geglaubt, war zu naiv“, so der Autor. Tatsächlich vermittelt die Beschreibung des Großvaters den Eindruck, er habe nach seinem besten Wissen und Gewissen seine Pflichten vor allem als Bauer erfüllt; erst an zweiter Stelle die als Großgrundbesitzer eines deutschen Musterhofs, der sich laut Tietz im nationalsozialistischen Sinne „nicht besonders hervorgetan hat“. Gustav, in der Furcht, jemand könnte ihm daraus einen Vorwurf machen, untersagte einem Zwangsarbeiter, der auf seinem Hof beschäftigt war, für einige Tage zu seiner sterbenden Mutter nach Polen zu reisen; das drückt Jahre später doch auf sein Gewissen. Obwohl er Abwehr gegen die Erinnerung leistet („Was will der Karel von mir?“) und seine Schuld nicht einmal vor sich selbst zugeben will, kann er seinem Gewissen letztendlich nicht entkommen. Er sei, laut Tietz, später auch einer der wenigen gewesen, der sein Verhalten bereut hätte und kein Selbstmitleid geübt hätte, wie es viele andere taten. Ein verklärtes Bild der Erinnerung, oder Realität? Diese Frage muss offen bleiben.

Die Zustände, in denen Tietz´ Romanheld Gernot aufwuchs, könnte man als typisch für die damaligen Zeit- und Ortsverhältnisse bezeichnen; sie ragen keineswegs auffallend heraus aus dem, was aus der Vertriebenenliteratur allgemein bekannt ist. Der Familienkreis, der Gerold prägte, unterschied sich nicht von dem der meisten Sudetendeutschen – auch seine breite Verwandtschaft hätte ein ganzes Spektrum politischer Einstellungen repräsentiert: von SS- und SA-Männern über Unpolitische, passive Widerständler bis hin zu einer mehr oder weniger offenen Auflehnung gegen das Nazi-Regime. Obwohl sich Tietz lange mit seiner Herkunft – heute würde man ‚Migrationshintergrund‘ sagen – nicht auseinandergesetzt hatte, wurde er von ihr nachhaltig geprägt; er ist, wie die meisten seiner Schicksals- und Altersgenossen, von der Mutter ermahnt worden, ja nicht anzuecken; die Vertriebenenkinder mussten sich stets anständig verhalten, um nicht aufzufallen; ein Schimpfwort für die ‚Reingeschmeckten‘ hatte man für gewöhnlich leicht parat. Dadurch wurde die Kindheit der Vertriebenenkinder stets von einem Korrektiv geprägt, das sie zumindest eines Teils ihrer Unbekümmertheit beraubte: Sie mussten in jeder Hinsicht besser sein als die Kinder der Einheimischen, um ihnen nur annähernd ‚ebenbürtig‘ zu sein; ihre Jugend wurde daher von einem diametral anderen Lebensgefühl geprägt als die der alteingesessenen Deutschen – ein Phänomen, das im 21. Jahrhundert keineswegs verebbte, sondern sich vielmehr bis in die heutigen Tage steigerte; die Migrantenkinder von heute – überall auf der Welt – sind hierfür ein selbstredender Beweis.

Das Empfinden der Jugendzeit, stets in der zweiten Reihe zu stehen, wie sehr man sich auch bemühte, prägte den Charakter der ‚zugereisten‘ Kinder, wie der Autor in dem Gespräch zugab. Er führte seine Überlegung weiter aus: Dieses oft genug belastende Gefühl hätte dennoch auch etwas Positives mit sich gebracht – es schärfte bei den Heranwachsenden den Sinn für Gerechtigkeit; sie wurden für die Situation der Schwächeren sensibilisiert und waren eher bereit, sich für diese einzusetzen. Es ist kein Zufall, dass viele von den ehemaligen Vertriebenenkindern später den Lehrerberuf ergriffen haben und/oder sich für benachteiligte Kinder einsetzten. Die Flüchtlingskinder von einst kämpften für andere; für sich selbst waren sie jedoch oft nicht imstande, eine Schlacht auszufechten. Frau Tietz erzählte lachend, wie sie ihren künftigen Mann das eine oder andere Mal in Schutz nehmen musste.

Heimat und Identität

Gerold Tietz liebte das Wort sudetendeutsch nicht. Alles, was ein solches Etikett trägt, bemerkte er, wird automatisch – bewusst oder unbewusst – in eine untere Schublade abgeschoben und weiter nicht angerührt. „Wer weiß, was da einem entgegen springen könnte?“, spöttelte er. Tatsache bleibt, dass viele Menschen ähnlich denken. Überdies interessiert das ’sudetendeutsche Thema‘ kaum einen so wirklich, der nicht auf irgendeine Art persönlich involviert ist. Deutschböhmisch ist nach Tietz ein geeignetes, weil unvorbelastetes Wort; es zieht keine schlammig-braune Spur hinter sich her. Der Terminus kann sich sehen lassen, obwohl die Deutschmährer und die einstigen deutschsprachigen Bewohner Österreichisch-, später Tschechisch-Schlesiens einen Einspruch einlegen könnten. Darüber hinaus sei dieser Ausdruck älter als die relativ junge Hilfsbezeichnung sudetendeutsch. Gerold Tietz würde sich also als einen Deutschböhmen bezeichnen; ein ‚richtiger‘ Deutscher sei er nicht. Bei seiner französischen Vermieterin in Paris konnte er, als junger Student noch, dank seiner böhmischen Herkunft als der ‚Petit Tchèque‘ durchkommen; als Deutscher wäre er im Frankreich der sechziger Jahre alles andere als willkommen gewesen. Seine Doppelidentität kam ihm nicht nur in diesem einen Fall zugute. Dass die Deutschböhmen (-Mährer, -Schlesier) anders als die ehemals Reichsdeutschen ‚tickten‘, steht wohl außer Frage. Wie die Schriftstellerin Barbara König in diesem Zusammenhang schrieb: „Die ‚Mischung‘ gab mir viel mehr Flexibilität, als wenn ich nur Deutsche gewesen wäre.“

Tietz hat seine böhmische Heimat kaum bewusst erlebt; er konnte daher nur ungenügend auf selbst Erfahrenes zurückgreifen. Daher musste er so vorgehen, als würde er einen historischen Roman planen – er musste seine Erinnerungen und seine Phantasie den realen historischen Tatsachen und den ihm von Dritten vermittelten Erlebnissen anpassen. Auf diese Weise ist es dem Autor gelungen, vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte und in einer realen Topographie individuelle Charaktere und deren Schicksale glaubwürdig darzustellen. Dem tut auch keinen Abbruch, dass sich in den Romanen Realität und Fiktion mitunter stark vermischen. Obschon Tietz´ Romanpersonal seine Vorbilder in Menschen hat, die wirklich gelebt haben, wäre es irreführend, sie als bloße Kopien derselben zu betrachten: Tietz´ Protagonist Gernot ist beispielsweise laut dem Schriftsteller nicht eins zu eins mit ihm selbst gleichzusetzen. Ungefähr in gleicher Weise, wie sich die Namen Gerold und Gernot ähneln, ähneln sich auch der Charakter und die Erlebnisse des Schriftstellers und seiner Romanfigur.

Beim Schreiben griff Tietz hauptsächlich auf die Erzählungen seiner Mutter zurück; sie war es vor allem, die dem künftigen Autor Erlebnisse vermittelte, die er als knapp Vierjähriger noch nicht bewusst haben konnte. Es ist bezeichnend für den Identifikationsprozess allgemein, dass der Rezipient die ihm oft wiederholten Erlebnisse dermaßen verinnerlicht, dass seine eigenen Erinnerungen mit den ihm übermittelten zu einer kaum mehr zu trennenden Einheit verschmelzen. So schlüpft der Autor gleichsam in die Haut eines anderen Menschen. Für die ‚Literatur über die verlorene Heimat‘ ist es symptomatisch, dass es die Mutter oder eine andere weibliche mutterähnliche Gestalt ist, die in erster Linie mit der Heimat assoziiert wird. Gerold Tietz stellt in dieser Hinsicht also keine Ausnahme dar; er geht aber so weit, dass er über die Erlebnisse seiner Mutter, die Jahrzehnte vor seiner Geburt stattfanden, mit einer Selbstverständlichkeit erzählt, als wäre er selbst dabei gewesen: Das bestätigt den Schriftsteller als einen guten Fabulierkünstler.

Gerold Tietz machte sich Václav Havels Aussage zueigen: „Die Heimat kann ein dumpfes Loch sein, oder sie kann ein Sprungbrett bedeuten.“ Der Autor unterlässt ostentativ jede Bemühung, auf der Gefühlsklaviatur der Leserschaft zu spielen; in seinen Romanen finden wir kaum eine ‚herzzerreißende Szene‘. Und wenn wir sie doch einmal finden, dann ist ihre Beschreibung in einer knappen, einfach aufgebauten Syntax gehalten, im Wortschatz schlichter Sprache. Nach einem Gefühlsüberschwang würden wir bei dem Schriftsteller – wie übrigens bei allen guten Vertretern der Vertriebenenliteratur – vergeblich suchen. Heimat ist für ihn – so sagte der Autor – nicht nur ein bestimmter Ort, eine Stadt, ein Haus oder eine Landschaft; Heimat sind vielmehr die geliebten Menschen. Am Beispiel seiner Mutter zeigt Tietz das große, ehrliche Heimweh, das die Seele verzehrt und mit nichts zu stillen ist; das ist die Sehnsucht der einfachen Leute. Obwohl es nach einiger – freilich allzu langer – Zeit gelingt, in der ’neuen‘ Heimat Fuß zu fassen, bleibt die Erinnerung an die alte Heimat für immer ein fester Bestandteil des Lebens von Vertriebenen und Flüchtlingen.

Wort zum Schluss

Tietz kommt aus einem Grenzgebiet, in dem sich im Laufe der Jahrhunderte Deutsche mit Slawen in gegenseitig bereichernden Wechselbeziehungen begegneten; aus dieser einzigartigen Kombination geht seine Art zu schreiben hervor, die auffallende Nähe zur Musik aufweist; seine Romane sind einer in die literarische Form transponierten [‚böhmischen Fuge‘] gleich, einem frei gestalteten und sich frei entfaltenden Musikstücks. Aus dieser Doppelwurzel wächst auch die skurrile böhmische Religiosität, die ihresgleichen in der Welt kaum finden mag; von hier entsprießt die Eigenart, Dinge von möglichst allen Seiten zu betrachten, sich ihnen mit Vorbedacht zu nähern, um sie im nächsten Augenblick furchtlos auf den Kopf zu stellen und aufmerksam abzuwarten, was mit ihnen in der neuen, ungewöhnlichen Lage geschehen wird. Das verlorengegangene Böhmen war der Inbegriff für Vieldeutigkeit und Widerspruch; diese Wechselwirkungen bedingten die ständige Suche, das vorsichtige Abtasten, die Notwendigkeit eines forschenden Blicks aus möglichst vielen Perspektiven. Das Bewusstsein der allgegenwärtigen Symbiose des scheinbar Inkompatiblen, verbunden mit dem Drang, auch die andere Seite der Münze zu erschließen, waren es, die Gernot, als er noch in Kinderschuhen steckte, dazu bewogen, seine Honigbrote umzudrehen und ihn sensibilisierten für die allezeit und allerorts fließenden Übergänge sowie für die natürliche und deswegen nicht aus dem Weg zu räumende Relativität aller Dinge.

Gerold Tietz saß – wie er selbst zu sagen pflegte – auf eine gewisse Art und Weise zwischen allen Stühlen; er war in der Zeit der Vertreibung zu klein, um von dem sudetendeutschen Bildungs- und Kulturgut nachhaltig geprägt zu werden; trotzdem war er sudetendeutsch genug, um später die Bespöttelungen als ‚Watzlaw‘ und ‚Pollack‘ von den Mitschülern in Deutschland über sich ergehen lassen zu müssen. Er war böhmisch genug, um die Tradition der böhmischen Ironie literarisch fortzuspinnen und sich ihrer auf zuweilen brillante Weise zu bedienen. Weder ‚reichsdeutsch‘, noch ‚richtig‘ sudetendeutsch oder gar tschechisch: ein deutschsprachiger Schriftsteller aus Böhmen – das war Gerold Tietz.«

Kateřina Kovačková

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Über Kateřina Kovačková

Kateřina Kovačková

Kateřina Kovačková, 1981 in Plzeň / Pilsen in Westböhmen (Tschechien) geboren, studierte in Böhmen (Pilsen), Bayern (Regensburg und München) und Berlin Germanistik und Kunst und wurde 2013 im Fach Neuere deutsche Literatur an der LMU in München promoviert. Ihre Doktorarbeit über die Figuren der „Anderen“ in der deutschböhmischen Exilliteratur ist 2015 im ROGEON Verlag erschienen. Kateřina Kovačková erhielt mehrere Stipendien und Auszeichnungen, u.a. das Stipendium des Adalbert-Stifter-Vereins in München für junge Künstler und Nachwuchswissenschaftler, das Stipendium des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, sowie das Promotionsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Sie ist Trägerin des Adolf-Klima-Preises für das Jahr 2010 der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste für ihre Magisterarbeit über Otfried Preußler. Frau Dr. Kovačková ist als Schriftstellerin tätig.

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