Annas Himmelfahrt | Melodram
Tonspur in voller Länge
Das Kapitel „Annas Himmelfahrt“ aus dem Roman Böhmisches Richtfest von Gerold Tietz inspirierte den Komponisten Dr. Dietmar Gräf zu einer Vertonung dieses Kapitels als Melodram, welches 2008 zusammen mit dem Malinconia-Ensemble Stuttgart unter der Leitung von Helmut Scheunchen uraufgeführt wurde.
Mit freundlicher Genehmigung des Komponisten und der Musiker steht der Ton-Mitschnitt hier für private Zwecke zur Verfügung (jegliche kommerzielle Nutzung, Weiterverarbeitung, u.ä. sind ausschließlich mit genehmigter Lizenzierung möglich):
Komponist: Dr. Dietmar Gräf
Malinconia-Ensemble Stuttgart:
Leitung und Violoncello: Helmut Scheunchen
Tenor: Helmut Holzapfel
Violine: Ramin Trümpelmann
Klavier: Günter Schmidt
Einblicke des Komponisten
Zum „Making-of“ des Melodrams Annas Himmelfahrt erklärt der Komponist Dietmar Gräf beispielhaft folgende Sequenzen:
Beispiel 1 (Beginn bis 0’25 des Videos):
Hier sehen und hören Sie zunächst ein instrumentales Vorspiel. Da Taktarten und Taktstriche fehlen, dienen für die Musiker als Ersatz gestrichelte Linien zur Orientierung. Anschließend setzt der Sprecher unbegleitet mit dem Text ein; bereits bei „Graspolster“ folgt ein typischer melodramatischer Teil, nämlich Sprechen plus illustrierende instrumentale Begleitung.
Beispiel 2 (im Video von 1’40 bis 2’07):
Bei diesem Notenbeispiel erkennt man ein Rezitativ, ähnlich der Psalmodie in der geistlichen Musik, wobei es bereits ab der Textstelle „königlichen Burg“ zur Ausschmückung in Binnenmelismatik beziehungsweise Melodik übergeht. Dann folgt als Zwischenspiel ein Duo von Violine und Violoncello.
Beispiel 3 (im Video von 9’15 bis 9’30):
Im dritten Notenbeispiel handelt es sich schon um eine Arietta bzw. ein Arioso mit kontrapunktischen respektive polyphonen Stimmen in den Instrumenten.
Auszugsweiser Nachdruck des erstmals 2010 veröffentlichten Band 30 (“Identität”) der Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste mit freundlicher Genehmigung der Akademie und des Komponisten Dietmar Gräf.
Text & Musik aus wissenschaftlicher Sicht
Hintergrundwissen: Das Zusammenspiel von Text & Musik aus wissenschaftlicher Sicht – ein ergänzender Beitrag des Komponisten Dietmar Gräf über die generellen Möglichkeiten und Erfordernisse einer Textvertonung:
Mit dieser Thematik beschäftigt sich die Musik(geschichte) praktisch seit ihrer Existenz. In der alten griechischen Musik war die Verbindung von Sprache und Musik sozusagen fast naturgegeben. Das heißt, es handelte sich um eine untrennbare Kunst, bestehend aus Musik, Text, Tanz und Theater. Selbstverständlich kann das Theater auch zuerst geenannt werden, das dann die anderen Kunstarten integriert hat. Aber nochmals: Es trat nicht eines zum anderen, es war einfach zusammengehörig, so ähnlich wie Seele, Geist und Körper. In der Gregorianik war zwar auch eine sehr enge Verbindung vorhanden, aber da trat doch irgendwann zum liturgischen Text die einstimmige gesungene Melodie. Bei den sogenannten Niederländern (15.Jahrhundert) war ohne Zweifel die Musik im Vordergrund, der Text musste sich unterordnen. Bei ihnen wird oft aufgrund der starken Kontrapunktik der Text schlecht oder gar nicht verstanden. In der Renaissance hatte hingegen der Text die Priorität, deshalb schrieben die Komponisten hier weniger kontrapunktisch, mehr homophon (grob gesprochen: pro Textsilbe ein Akkord). So könnte man fortfahren. Aber mehr oder weniger zu allen Zeiten haben beide wohl kaum gegeneinander gekämpft (außer bei gewissen Komponisten im 20.Jahrhundert). Im Laufe der Musikgeschichte hatten sich bestimmte Regeln herausgebildet, die erarbeitet und anerkannt wurden, ob bei Bach, der zum Beispiel manchmal die Stimme wie ein Instrument behandelte, oder bei Mozart, der durchaus der Auffassung war, dass die Musik die Hauptsache sei, bis zu Schubert, der eine Art Legierung aus Sprache und Musik zustande brachte und damit der Musiké am nächsten kam. Letzlich aber haben fast alle (großen) Komponisten versucht, eine Synthese zwischen Sprache und Musik herzustellen, nur die Scherpunkte wurden verlagert.
Ich bilde mir nicht ein, Sprache besser vertonen zu können als diese übergroßen Meister und Vorbilder. Folglich richte ich mich bei aller Modernität nach dem, was sie bereits erreicht hatten. Die Musik hat sich demnach nach der Syntax der Sprache zu richten, das heißt, wo die Sprache atmet (zum Beispiel bei einem Punkt oder Komma), hat die Musik auch eine Atmung, sagen wir durch Pause oder langen Notenwert. Auch wenn wir im Alltag sprechen, sprechen wir – ohne es zu merken – einen Sprachrhythmus. Jeder kann sich einmal ein paar Sätze vorsprechen und seinem eigenen Sprachrhythmus zuhören. Man wird unschwer Längen, Kürzen, Zusammenfassungen und so weiter heraushören. Nehmen wir ein simples Beispiel: „Heute geht das Heinerle in den Wald.“ Das ergäbe als Rhythmus vier Achtel, bei „Heinerle“ eine Triole, dann wieder zwei Achtel und bei „Wald“ eine Viertel. Gegen diesen Sprachrhythmus sollte der Komponist nicht völlig verstoßen. Er kann zwar abweichen, zum Beispiel eine Länge noch verlängern, aber nicht reziprok dagegen steuern. Auch die quasi vorgegebene Sprachmelodie, von der jeder schon gehört hat, man denke an Hermann Hesse, sollte nicht völlig außer Kraft gesetzt werden. Der Komponist sollte ihr in etwa folgen. Bei sehr wichtigen Wörtern, sagen wir in einem christlichen geistlichen Text, wird der Komponist Ausmalungen in Form von Melismatik vornehmen, zum Beispiel „Gott“, er wird hier einige Töne darauf komponieren, sozusagen eine kleine Melodie, das bedeutet Melisma; bei einem unwichtigen Wort, wie zum Böeispiel „und“ wird er einen einzigen Ton schreiben. Bei wunderschönem Text („Liebe“) sollte man im Allgemeinen wohl konsonant schreiben, und zum Beispiel bei „Schmerz“ dissonant. Wobei es immer eine größere Auswahl an Konsonanzen und weicheren oder schärferen Dissonanzen gibt, insbesondere schier endlos viele Möglichkeiten der Verbindung dieser konsonanten oder dissonanten Akkorde, und es lohnt sich durchaus, Kompositionen auf die Verwendung und Kombination dieser Akkorde zu untersuchen. Ich muss wohl bei diesen wenigen Beispielen bleiben, da Textvertonung ein eigenes und sehr umfangreiches Thema ist.
Auszugsweiser Nachdruck des erstmals 2010 veröffentlichten Band 30 (“Identität”) der Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste mit freundlicher Genehmigung der Akademie und des Komponisten Dietmar Gräf.
Komponist Dietmar Gräf
Zur Person: Komponist, Pianist, Organist, Dirigent und Musikwissenschaftler mit Studium in München, Regensburg, Würzburg und Wien – ist ein Vollblutmusiker mit nahezu unerschöpflicher Energie und musikalischer Kreativität. Er spielt mehr als zehn Instrumente auf hohem, Orgel und Klavier auf professionellem Niveau.
Dietmar Gräfs kompositorisches Oeuvre umfasst über 500 Werke. Als Interpret – für Klavier, Orgel und als Dirigent – gab er bereits über 2000 Konzerte. Dietmar Gräf war Dirigent namhafter Orchester mit zahllosen internationalen Auftritten. Er war Domkapellmeister in Eichstätt und unterrichtete die Regensburger Domspatzen. In seinem Wohnort Bad Wörishofen arbeitete er als Intendant und Künstlerischer Leiter des Kneipp-Musik-Festivals. Außerdem hält Dr. Dietmar Gräf ein Doktorat für Musikwissenschaften der LMU, schrieb diverse musik-pädagogische Bücher, lehrte an verschiedenen Universitäten, und komponierte Musik für Filme.
Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen erhielt Dietmar Gräf 2001 den Sudetendeutschen Kulturpreis für Musik, 2004 das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2009 die Päpstliche Goldmedaille, und 2010 den Johann-Wenzel-Stamitz-Preis der Künstlergilde Esslingen. Gräf wurde außerdem in die Sudetendeutsche Akademie der Wissenschaften und Künste berufen, und er erhielt die Janacek-Medaille des Präsidenten der Tschechischen Republik, Václav Havel.