Jenny Poláková

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J. Poláková – zusammengefasst

Literaturwissenschaftliche Rezension (Volltext)

Über Jenny Poláková

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J. Poláková – zusammengefasst

Literaturwissenschaftliche Kritik von Jenny Poláková zu Gerold Tietz – zusammengefasst vom ROGEON Verlag:

»Jenny Poláková setzt sich in Ihren Rezensionen für ‚Böhmische Fuge‘, ‚Große Zeiten Kleines Glück‘ sowie ‚Böhmisches Richtfest‘ sehr ausführlich mit diesen Werken auseinander.

Sie geht dabei zunächst auf die Parallelen der Böhmischen Fuge mit jenen Romanen ein, die vor allem aus der Perspektive der Personen geschrieben sind, welche von diesen Ereignissen unmittelbar betroffen sind, wobei sich insbesondere die Motive der verlorenen Identität, der geistigen und menschlichen Werte, und des Verlustes der Heimat und Kultur ähnelten.

Jenny Poláková fällt insbesondere ins Auge wie sehr Tietz immer wieder die differenzierte Sichtweise auf alles herausarbeite – denn alles habe zwei Seiten, alles müsse aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Folgerichtig wären die geschilderten Lebensläufe voller Gegensätze und Wendungen, und selbst Sachen und Gegenstände hätten ihre eigene gegensätzliche Symbolkraft. Und so verwundert Polakova auch der Titel des Buches nicht, zumal die Fuge in der Musik den Wechsel eines oder mehrerer Themen nach kontrapunktischen Regeln bedeute, einem Kontrapunkt bestehend aus zwei – oder mehr – Blickwinkeln auf ein und dasselbe Ereignis.

In ‚Große Zeiten Kleines Glück‘ erkennt Jenny Poláková Tietz‘ fortgesetzte Erzählungsart aus ‚Böhmische Fuge‘, nämlich Ironie, Sarkasmus und eine ‚Schweijksche Betrachtungsweise‘. Dabei bilde die Beziehung zwischen Rita und Leo den Rahmen einer Erzählung, innerhalb dessen sich so manche Schicksale der Tschechen und Deutschen abspielten, und während dessen die sich verschärfenden Dialoge die sich ändernde politische Lage wiederspiegelten. Polakova führt aus, dass Tietz dem Leser offenbar nicht nur alle Zusammenhänge der Handlung begreiflich machen wolle, sondern ihn auch auf Ausflüge in die Vergangenheit mitnähme, wobei Tietz ein plastisches Bild der Geschichte entfalte, und er die sich im Zeitablauf verändernden Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Juden lebensnah zu schildern vermöge.

In Ihrer Rezension zu ‚Böhmisches Richtfest‘ interpetiert Jenny Poláková u.a. zentrale Inhalte ausgehend vom Titel – wie beispielsweise in Bezug auf den „Prager Frühling“ 1968 -, als auch vom Titelfoto (der Erstauflage). Polakova schildert bildhaft die literarische Arbeit von Tietz und die Handlung seines Protagonisten Gernot, beispielsweise durch ihren Vergleich zum Bildhauer Auguste Rodin, der gleichfalls Zug um Zug ein kunstvolles Spiel aus Licht und Schatten meißle, oder zum aufmerksamen Zuhörer, der aus all dem Knäuel von Informationen, Geschichten, Sichtweisen und Gegebenheiten einzelne Fäden herausziehen und daraus etwas Neues zu schaffen vermöge.«

ROGEON Verlag

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Literaturwissenschaftliche Rezension

von Jenny Poláková

(1) Rezension zu ‚Böhmische Fuge‘:

»In Deutschland erschien unlängst der Roman von Gerold Tietz „Böhmische Fuge“, der entschieden Beachtung verdient. „Warum dieses Buch? Es scheint mir an der Zeit, verschüttete tschechisch-deutsche Beziehungen neu zu beleuchten. Auf beiden Seiten existierten einfach eine Menge unbewältigter Vorstellungen, falscher Ideale und Lügen sowie Verdunkelungen“ (aus dem Buch von Gerold Tietz).

Die Hauptlinie der Geschehnisse bildet das Schicksal von Anna, geb. Zborschilova, die viele biografische Züge der Mutter des Autors trägt. Ihre Ausbildung erhielt Anna im Kloster in Eger. 1938 heiratete sie in eine deutsche Familie ein. Der Ehemann Johann musste bald nach der Hochzeit einrücken, von dieser Zeit an besuchte er nur einmal den Hof in Horka, den in seiner Abwesenheit Vater Gustav führte. Anna bekam zunächst regelmäßig Briefe aus Schitomir, später hatte sie keinerlei Nachricht mehr von ihm. Am Ende des zweiten Weltkrieges verlässt Anna mit dem Rucksack am Rücken, mit zwei Kindern und mit der Ordensschwester Rosa „freiwillig“ den Hof. Ihr leidvoller Weg führt über Dresden in den Ort Simmelreith, wo sie im Hause des Herrn Pohlding eine bescheidene Unterkunft findet, weiter geht sie dann über Altenmarkt (Bayern), Wurmlingen bis nach Tuttlingen (Württemberg).

Annas Lebenslauf im Roman des Gerold Tietz ähnelt den Romanen, die vor allem aus der Perspektive jener Personen geschrieben sind, welche von diesen Ereignissen unmittelbar betroffen sind. Es wiederholen sich Motive der verlorenen Identität, der geistigen und menschlichen Werte, des Verlustes der Heimat und deren Kultur wie auch das Bemühen um den Ausgleich mit der Vergangenheit. Die Geschichte spielt in jener Zeit, als Anna in Böhmen lebte, vor allem aber im Kreise um Dauba-Aussig-Leitmeritz, Mlada Boleslav, Böhmisch Leipa und Novy Bor. Die Ortsbezeichnungen sind in diesem Roman wichtig, mit diesen sind analog verbunden die Namen weiterer Figuren des Romans. Die Ortsnamen des Geschehens sind außerdem wichtig als Symbol der Gegensätzlichkeit der Geschichte und der Personen. Der weitere Teil von Annas Leben spielt im Bayrischen Wald. Der Autor schreibt: „Schwejk, ich habe dich nie verraten, ich habe mir den Reflex, mich und alles umzudrehen, nie abgewöhnen lassen, wenn ich auch heute die Butterbrote mit Honig nicht mehr umdrehe.“ Aus diesem Satz ist die Art und Weise der Vorstellung von Geschichte und Personen ersichtlich. Alles hat zwei Seiten. Alles muss aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Der Schilderung von Annas Schicksal geht die Vorstellung der Zusammenhänge voraus, die vom Autor aufgrund sorgfältiger Studien sowohl historischer als auch gesellschaftlicher Umstände vorausgesetzt werden.

Das erste Kapitel erläutert die Beziehung zwischen Autor, Jaroslav Hašek und Schwejk. Des Weiteren erfährt der Leser von Annas Familie, der Familie ihres Mannes, den Nachbarn, Bekannten und Freunden Johanns und von geschichtlichen Persönlichkeiten. Der Autor geht, wie er selbst sagt, von familiären Ereignissen aus, die er gehört hat, von Erzählungen seiner Mutter und von Recherchen zu einzelnen Themen.

Anna heiratete in einen deutschen Hof ein, in dem sie nicht willkommen war, aber als Johanns Frau erfüllte sie ihre Aufgaben so, wie es erwartet wurde. Sie war immer vorbildlich und gleich vorbildlich passte sie sich den Gewohnheiten auf dem Hof und den Erfordernissen der Zeit an. Dafür bezahlte sie dadurch, dass sie die Heimat verlassen und den schweren Neubeginn in Bayern erleben musste. Nach dem Krieg abonniert sie die sudetendeutsche Zeitung und nimmt an landsmannschaftlichen Treffen teil, obzwar sie dort Menschen trifft, deren Vergangenheit und jetziges Auftreten nicht bewunderungswürdig sind (z.B. Frau Moorlechner oder Frau Hintermaier). Die Widersprüchlichkeiten des Lebens zeigen sich beispielsweise an der Person von Annas Mann: Johann wurde bald nach der Hochzeit nach Frankreich, darauf nach Russland versetzt, schließlich war er als Angehöriger der SS in Schitomir. Seine begeisterten Briefe an Anna sind unregelmäßig, bei seinem Besuch in Horka deutet er an, wie es wirklich unter deutscher Verwaltung in der Ukraine aussieht. Aber die Wolldecke aus Schitomir wärmt Annas Kinder.

Ähnlich auch Johanns Freund Paul: Er war Aufseher in Dachau, kurz vor der Befreiung des Lagers floh er in Zivilkleidung, nach dem Krieg gründete er eine Hühnerfarm und ein Geschäft. Mit riesigem Einsatz hilft er die Rechte der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Sudetenland durchzusetzen.

Voller Gegensätze und Wendungen sind auch die weiteren Lebensläufe, Schicksale, Daten und Namen: Johanns Vater (Opa Gustav), der polnische Student Karl, František Stech, Fritz Löhner-Beda, Luda Baarová, Karl Postl, ein Pilot der Luftwaffe, ein Arzt aus Theresienstadt, Lidia aus Russland, die Ukrainer auf dem Hof, Jürgen Stroop, Bertha von Suttner, K.H. Mácha, Bedřich Smetana, Joseph Ressel, Gregor Mendel, Onkel Wenzel, Annas Vater, Herr Pohlding, Lehrer Richard, der estländische Gärtner, usw.

Gernot selbst, der als kleiner Junge mit der Mutter auf allen Straßen gewandert ist, besuchte die Schulen in St.Wolfgang und Tuttlingen, studierte in Tübingen, Berlin, Paris, und fühlte sich doch ständig vom Ort Horka angezogen. Dort „lebten einst Tschechen, Juden und Deutsche friedlich zusammen, bevor die nationalistischen Brandstifter das Land in Flammen setzten“ (aus dem Text über den Autor).

Und auch Sachen (Gegenstände) haben ihre eigene Symbolkraft: Anna aus tschechischer Familie heiratet in altdeutscher Tracht, ihr Mann trägt SS-Uniform und Schuhe von Bată. Der Ofen, an dem sich Anna und die Kinder in Simmelreith wärmen, ist aus aus Stahlhelmen und anderem Wehrmachtsschrott hergestellt. Im vorbildlichen katholischen Hof versteckt sich in einer Heiligenstatue Martin Luther. Řip und die Sudeten können – je nach Blickwinkel – einmal alter slawischer, einmal alter germanischer Boden sein. Chlum, Sadova und Horka erleben Zeiten des Ruhmes und des Falls.

Die Gegensätzlichkeit der Welt endet auch nicht in der Zeit nach dem Krieg: Annas Sohn Gernot gibt sich während seines Studiums in Paris auf Wunsch seiner Vermieterin lieber als Tscheche denn als Deutscher aus. Während sich die Menschen in Paris unterhalten, ist in Vietnam Krieg. Wieder überschreitet die Bosheit alle Grenzen, die geografischen und die des Verstandes.

Wie schon aus dem angeführten Zitat ersichtlich, wendet sich Gerold Tietz in seiner Erzählung an den Schwejk. Der Autor sagt weiter: „Die Gestalt des Schwejk soll nicht nur eine Verbeugung vor Hašek sein, sondern sie erfüllt eine Aufgabe in den tschechisch-deutschen Beziehungen. Sie erleichtert dem Leser die Loslösung von einem Blickwinkel auf die Figuren und die Gewinnung des nötigen Abstandes zu ihnen.“

In 36 Kapiteln des Romans stecken viele Informationen, welche dem Leser Kenntnisse der historischen Wirklichkeit und der Zusammenhänge abverlangen. Der Text bewegt sich in einigen verschiedenen Zeitläufen: in der Vergangenheit – früher und später, dem Schicksal Annas und der Kinder in der Zeit des Aufenthaltes auf dem Hof in Horka „von wo auf einer Seite der Berg Řip und auf der anderen Theresienstadt liegt“, in der Nachkriegszeit im Zusammenhang mit Annas Leben und den Erlebnissen des Studenten, später des erwachsenen Gernot.

Der Autor erleichtert dem Leser nicht gerade den Zugang zum Text. Es ist ein einziger großer Fluss der Gedanken des Erzählers. Die Fuge bedeutet in der Musik den Wechsel eines oder mehrerer Themen nach kontrapunktischen Regeln (Válek Jiři: italienische Musikfachsprache). Der Kontrapunkt besteht hier in zweierlei oder mehrerlei Blickwinkeln auf ein Ereignis, die Themen wechseln derart, dass im Zentrum zwar Anna steht, aber in einzelnen Kapiteln Figuren in den Vordergrund rücken, welche mit ihr und dem Ort des Geschehens verbunden sind.

Es ist ein Buch, das vor allem durch seinen neuen Blickwinkel auf das Thema, welches schon oft auf verschiedene Art verarbeitet wurde, bedeutend ist und ich halte es für wichtig, tschechische Leser darauf aufmerksam zu machen.«

(2) Rezension zu ‚Große Zeiten Kleines Glück‘:

»Im Jahr 2005 wurde der Roman „Große Zeiten Kleines Glück“ von Gerold Tietz herausgegeben. Er ist eine freie Fortsetzung des Romans „Böhmische Fuge“.

Der Erzähler Gernot (eigentlich der Autor) macht die Leser mit dem Leben seiner Bekannten, Rita Pohl, bekannt. Die Handlung spielt in Prag, angefangen in der Zeit, als Hitler die Macht übernahm, in der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Es folgt die Besetzung Prags/ der Tschechoslowakei durch die deutschen Soldaten und welche Folgen dieses Ereignis hatte. Rita stammt aus einer deutschen Familie, ihr Vater ist Chemiker in bedeutender Stellung, wodurch sich Rita in der „höheren Gesellschaft“ bewegt. Für eine gewisse Zeit fährt sie auf’s Land, danach kehrt sie nach Prag zurück. Ihr Freund Leo kommt aus einer gemischten Familie, sein Vater ist Direktor bei der Tschechischen Landesbank, die Mutter ist Tschechin. Leo ist ein überzeugter Kommunist, er will sich nicht zu den Deutschen bekennen. Er wird ins Konzentrationslager nach Sachsenhausen geschickt, nach der Entlassung versteckt er sich und nach der Trennung von Rita geht er nach Prag.

Die Beziehung zwischen Rita und Leo bildet den Rahmen dieser Erzählung, innerhalb dessen sich manche Schicksale der Tschechen und Deutschen abspielen. Durch Rita wird der Leser mit der Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Lage in Böhmen sowie mit den Charakteren der Figuren und den Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren im Zusammenhang mit der jeweiligen Situation bekannt gemacht. Die Ansichten der beiden jungen Leute hinsichtlich der sich ändernden politischen Lage werden an den nach und nach sich verschärfenden Dialogen dargestellt.

Die einzelnen Romankapitel tragen den Titel, der das Hauptmotiv inne hat. Die Erzählung beginnt mit dem Besuch von Gernot bei Rita, die die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Prag erlebt hat: Sie kennen Prag. Bereits beim Lesen dieses Kapitels wird klar, dass man es mit keiner leichten Lektüre zu tun hat. Auch im weiteren Text des Buches muss man jedes Wort aufmerksam wahrnehmen, da die durch den Autor gewählten Wortverbindungen und Ausdrücke offensichtlich sehr genau abgewägt wurden. Der Leser sollte nicht nur alle Zusammenhänge der in der Zeit sich abspielenden Handlungen begreifen, sondern auch Ausflüge in die Vergangenheit unternehmen. Da entfaltet sich vor ihm ein plastisches Bild von der Geschichte (bedeutende Schlachten, bedeutende Persönlichkeiten, bedeutende Ereignisse), den Beziehungen (innerhalb der Familien, zwischen Tschechen und Deutschen, zwischen Tschechen und Juden, zwischen Deutschen und Juden, zwischen den Tschechen untereinander, den Deutschen in Böhmen untereinander, u.ä.), sowie deren Veränderungen im Zusammenhang mit der politischen und gesellschaftlichen Lage in den verschiedenen Zeitperioden. Der Autor hat Geschichte und politische Wissenschaften studiert und verfügt deshalb über tiefgründige Kenntnisse hinsichtlich der Entwicklung sowohl in den böhmischen Ländern als auch in Deutschland. Er wurde in Böhmen geboren, kennt deshalb das Milieu gut und kann sich auch in die Denkweise sowohl der tschechischen als auch der deutschen Bewohner hineindenken.

Der Erzähler benutzt tschechische Ausdrücke und Sätze, um seine tschechischen Romanfiguren und deren Haltungen zu charakterisieren, sowie Wörter und Sätze aus der deutschen Mundart (Arpeln, Pawlatsch, Fuhre, Powidl), wodurch eine Authentizität des Textes unterstützt wird. Er setzt seine Erzählungsart fort, die in seinem Roman „Böhmische Fuge“ zu finden ist, nämlich Ironie, Sarkasmus, „Schweijksche Betrachtungsweise“.

Der Titel des Romans besteht aus zwei Teilen: „Große Zeiten“: „… die Tage, die sind schlimm, aber die Zeit, die ist groß“, und „Kleines Glück“: das kleine Glück des Einzelnen (Rita und Leo, Flora und Wenzel, u.ä.), das die Zeit zunichte gemacht hat. Beide Teile des Titels werden in Großbuchstaben geschrieben. Man kann daraus die Absicht des Autors ableiten, diese in Gegensatz zueinander zu stellen. In den gleichen Gegensatz zueinander stehen die Ansichten und Handlungen der Romanfiguren. Der Autor benutzt dieselbe Art und Weise wie im Roman „Böhmische Fuge“, indem er jede Sache von zwei Seiten betrachtet.

Ein aufmerksamer Leser lernt zahlreiche historische Ereignisse und Figuren kennen (Schlacht bei Königsgrätz, Libussa, Karl IV., Dr.Jessenius, J.Žižka, T.G.Masaryk, E.Beneš, E.Mácha usw.), bedeutende Bauwerke und Institutionen Prags (Karlsbrücke, Haus Zur Glocke, Universität), entscheidende Ereignisse einer großen Zeit (15. März, Gründung der Partei Henleins, u.ä.), die Geschichte des jüdischen Volkes sowie bedeutende literarische und kulturelle Ereignisse (Zeitschriften, deren Veränderungen, u.ä.).

Der Schluss des Romans, der mit einer scheinbar leichten Feder tiefgründige Gedanken ausdrückt, lässt dem Leser einen Freiraum zum Nachdenken, indem die Rita erzählt, wie sie aus dem Fenster einen schweigenden Menschenstrom beim Verlassen des jüdischen Viertels in Prag sieht.

Es bereitet eine Freude, dieses Buch zu lesen. Es ist gut, durch das Buch zu lernen, es ist wunderbar, über das Buch nachzudenken.«

(3) Rezension zu ‚Böhmisches Richtfest‘:

»Wie in den früheren Romanen führt der Roman „Böhmisches Richtfest“ den Leser nach Böhmen, in die Gegend, in der der Autor geboren wurde, also nach Horka und in seine Umgebung.

Die Hauptfigur, Gernot, ist ein noch nicht geborenes Kind, danach ein Kind, das durch politische Veränderungen in Europa aus dem bekannten ins unbekannte Milieu, sogar von einer Meinungsseite zur anderen, geschleift wird. Verwundert und auch sich amüsierend beobachtet er das Verhalten der Verwandten und fremder Menschen, und auch Veränderungen in deren Verhalten. Die Handlung beginnt in der Zeit des Zweiten Weltkrieges – ca. 1941 – und reicht bis zum „Prager Frühling“. Mit dem Jahre 1968 hängt der Titel des Romans zusammen, jedoch auch das Foto auf dem Umschlag: die erwachende Böhmische Landschaft mit dem tauenden Eis, wobei die Sonne sie noch nicht (oder nicht mehr?) beleuchtet.

Mutter Anna, Maari, Tante Rosa, Gernot und andere Verwandte sind dem Leser mehr oder weniger bereits aus früheren Romanen bekannt. Außerdem tauchen auch Figuren auf, mit deren Hilfe der Leser in die dargestellte Zeit und auch in die vergangenen Zeiten hineinschlüpfen kann.

Das erste Kapitel verrät die Erzählweise. Wie in den beiden früher herausgegebenen Romanen meißelt der Autor das Bild wie ein Bildhauer, wie Auguste Rodin schafft er ein Spiel aus Licht und Schatten.

Chaos, nichts als Chaos verursachen die Politiker mit ihren Entscheidungen – in der Welt und auch in der Seele des Menschen. Vor allem Anna und Tante Rosa erzählen Gernot Geschichten, er hört gern zu und zieht aus dem Knäuel von Informationen, Historie, bedeutender und auch unbedeutender Gegebenheiten einzelne Fäden heraus.

Der Schweijksche Blickwinkel ist in diesem Roman wieder zu finden, vor allem dort, wo der Autor zur Darstellung absurder Situationen seine Ironie benötigt. Sogar der Titel muss dabei erwähnt werden, denn der Dachstuhl bricht wieder zusammen.

Der Leser wirft mit Gernot und mit anderen Figuren den Blick in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, in die Schicksale jüdischer Familien, in die Ereignisse im Mai 1945, in die Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Er liest über Gernots Studium in Tübingen und in Paris, über Martinas Urlaub in der Tatra und ihren Aufenthalt in Bratislava im Jahre 1968, über den Mauerfall in Berlin und den Tod von Gernots Mutter. Dabei defilieren vor seinen Augen solche Figuren wie Ibn Ibrahim Jakub, Golem, Heiliger Nepomuk, Heilige Ludmila, E.E. Kisch, K.H. Mácha, K.Henlein, J.W.Goethe, K.May, Heiliger Wenzel, K.Čapek und seine Molche. Auch kleinere Figuren werfen ihr Licht oder ihren Schatten auf Gernots Leben, sie beeinflussen positiv oder auch negativ ihre Umgebung (Onkel Franz, Magda Reusch, Herr Holub, Cousin Hermann, Mme.Montoile).

Alle drei erwähnten Romane wenden den Blick des Lesers nach Böhmen. Anna hat offensichtlich die Gegend geliebt, in der sie als junge Frau gelebt hat. Der Krieg und der „Eiserne Vorhang“ haben sie davon getrennt, genauso wie Gernot von seinem Geburtsort.

Den Höhepunkt bildet das letzte Kapitel. Die Darstellung von Annas letzten Stunden (in denen wohl das ganze Leben wie ein Film vor den Augen abläuft) ist für den Autor eine Gelegenheit dafür, dass das nie endende Chaos in der Welt und den nie endenden Machtkampf des Einen gegen den Anderen in reale und irreale Zusammenhänge setzt (König Benesch, G.Casanova, Schweijk), vor allem in die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen.

Zum Schluss kann ich nur sagen: Ja, so war es.«

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Über Jenny Poláková

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Jenny Poláková arbeitet an der Palacky Universität in Olmütz / Olomouc an der Fakultät für deutsche Literatur.

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